Prof. Wolfgang Knoll/ CEO, Wissenschaftlicher Geschäftsführer Austrian Institute of Technology, AIT

 

Was bedeutet Complexity Science?

Prof. Wolfgang Knoll: Wir leben in einer komplexen Welt, die innerhalb von Netzwerken funktioniert. Wir sind in vielschichtige berufliche Netzwerke eingebunden, ebenso wie in private Netzwerke wie zum Beispiel die Familie, der nachbarschaftliche Kreis sowie der Freundeskreis. Wir sind in öffentliche Netzwerken eingebettet, wie das Gesundheitssystem oder als aktive Teilnehmer in unserem Wahlsystem. Unser Denken und Handeln wird von diesen Netzen beeinflusst aber natürlich werden die Netze umgekehrt auch von uns beeinflusst – von manchen mehr und manchen weniger. Das alles ist nichts Neues. Allerdings haben wir durch die technologische Entwicklung, vor allem im letzten Jahrzehnt, die Möglichkeit große Mengen an Daten aus diesen Netzen zu generieren und zu interpretieren. Auf diese Weise wird es uns ermöglicht komplexe Systeme besser zu verstehen, effizienter zu gestalten und auch zukünftige Szenarien zu entwickeln.

Wie können wir uns diese Entwicklung vorstellen?

Prof. Wolfgang Knoll: Unser Gesundheitssystem zum Beispiel ist ein Netzwerk, das wir als Patient mitgestalten und dem wir auch ausgesetzt sind. Dieses Netzwerk besteht aus Patienten, Ärzten, Spitälern, Krankenversicherungen, der öffentlichen Hand, der Pharmaindustrie etc., die in ständiger Wechselwirkung miteinander stehen. Jede medizinische Aktion, die Konsultation des Arztes, die Diagnose, der Therapieansatz, das verschriebene Präparat, in welcher Apotheke es zu welchem Preis gekauft wurde, schlägt sich in Form von Daten nieder. Auf diese Art und Weise wird das gesamte Gesundheitssystem dokumentiert.

Aufgrund der leistungsstarken Rechner, die es mittlerweile gibt, kann man Analysen über diese Daten laufen lassen, Korrelationen identifizieren und Zusammenhänge aufzeigen. Diese Daten liefern ein Verständnis dessen, nach welchen Mustern das System Gesundheitswesen bei uns abläuft. Es liefert natürlich aber auch die Information, wie man so ein System nachhaltiger gestalten kann, indem man ineffiziente Maßnahmen identifiziert und damit Kosten einspart bzw. Kosten gar nicht entstehen lässt.

Complexity Science bereitet also den Umgang mit diesen großen Datenmengen als wissenschaftliche Disziplin auf und macht sie für praktische Anwendungen verfügbar?

Prof. Wolfgang Knoll: Genau. Diese Analyse kann in unterschiedlichsten Systemen greifen, das Gesundheitssystem ist hier nur ein Beispiel, genauso hilft uns diese Wissenschaft Verständnis über den Finanzmarkt zu erlangen, Städteplanung und Mobilität zu verbessern, wir können verstehen wie Kommunikation in großen Unternehmen funktioniert oder aus welchen Gründen sie eben nicht, wie gewünscht, funktioniert. Wählerverhalten zu verstehen ist ebenso ein Thema wie die Tatsache, dass männliche und weibliche Netzwerke unterschiedlich aufgebaut sind. Das alles sind Themen, das eigentlich bei allen Menschen eine gewisse persönliche Betroffenheit hervorrufen.

Das Aufzeigen von Lehrläufen und redundanten Kreisläufen schafft vermutlich nicht nur Freunde?

Prof. Wolfgang Knoll: Die Netzwerktheorie und Complexity Science wird nicht von allen Menschen mit der gleichen Begeisterung akzeptiert und honoriert. Jeder, der von einem System profitiert, wird nicht notwendigerweise alles tun um zur Veränderung dieses Systems beizutragen.

Ziel ist es mit Hilfe der gewonnenen Erkenntnissen Entscheidungshilfe zu geben?

Prof. Wolfgang Knoll: Das Verständnis von Netzwerken liefert übergeordnete Konzepte und Prinzipien, die man mit den entsprechenden mathematischen Modellen unterlegt. Seit einigen Jahren wird zum Beispiel Agent Based Modelling angewendet. Hier werden komplexe Netzwerke auf die Art beschrieben, die es möglich macht, sie in einen mathematischen Formalismus einfliessen zu lassen, aus dem dann Korrelationen abgeleitet werden. Das Faszinierende dabei ist, dass die Netzwerktheorie quer durch unsere Existenz eigentlich an allen Systemen festgemacht werden kann. Es wird sich zeigen wie leistungsfähig die Erkenntnisse sind, die man hier theoretisch entwickelt. Vor allem aber werden sie sich daran messen lassen müssen, wie relevant und verlässlich diese Erkenntnisse als praktische Hilfe für Entscheidungsträger im täglichen Leben sind.  Das gilt für die Politik genauso wie für die Finanzwelt, es trifft auf Wirtschaftssysteme ebenso wie auf soziale Netze zu. Viele Entscheidungsträger haben erkannt, dass sie mit ihren normalen, aus der Erfahrung linear in die Zukunft extrapolierten Entscheidungen, nicht mehr weiterkommen. Es gibt einen enormen Bedarf, das was wir langläufig als ‘immer komplexere Welt’ beschreiben, besser zu durchdringen und besser analysieren zu können.

Und durch akurate Vorhersagekraft Entscheidungen zu verbessern?

Prof. Wolfgang Knoll: In wie weit Complexity Science wirklich zu einer predictive power werden kann, ist nun schon eine etwas subtilere Frage. Aber es ist mit Sicherheit möglich mindestens Szenarien im Sinne von ‘was wäre wenn’ abzuleiten. Je mehr Zusammenhänge transparent gemacht werden können und je mehr durch Analysen aus der Vergangenheit aufgezeigt werden kann, wo bestimmte Entscheidungen dann welche Konsequenzen nach sich gezogen haben, desto besser und vorhersehbarer lässt sich natürlich entscheiden.

Die Konferenz war der Auftakt zu einer Reihe von Veranstaltungen, die in diesem Jahr noch stattfinden.

Prof. Wolfgang Knoll: Das Thema ist als Weiterentwicklung des Complexiy Science Blocks, den wir in Alpbach bei den Technologiegesprächen gestartet haben, zu verstehen. Die Ideen dazu gibt es schon länger, nun sind wir zur Umsetzung geschritten. Die Konferenz war der Auftakt zu einer Veranstaltungsreihe, die sich im ganzen Jahr 2015 fortsetzt. Anfang 2016 startet der Complexity Science Hub in Wien und versteht sich als Raum und Platform für Austausch zwischen Wissenschaftlern, der Industrie und Wirtschaft, und der Gesellschaft. Natürlich werden wir auch international mit anderen Complexity Science Knotenpunkten im Dialog stehen.

Welche neuen Berufsbilder können sich um das Thema Complexity Science entwickeln?

Prof. Wolfgang Knoll: Aus unseren eigenen Beobachtungen am AIT sehen wir, dass wir Querschnittsdenker brauchen. Wir werden zwar immer hochspezialisierte Experten brauchen, die die Tiefbohrungen setzen und state of the art, das Neueste vom Neuen beherrschen. Aber wir haben einen großen Bedarf an interdisziplinären und cross-disziplinären Personen, die einen systemischen Ansatz verfolgen und den sogenannte Helicopterview einbringen. In diesem Bereich ist es bereits abzusehen, dass es auch in der Ausbildung zu einem Paradigmenwechsel kommt.

Was ist Ihre Vision für den Complexity Science Hub Vienna?

Prof. Wolfgang Knoll: Ich würde mir wünschen, dass wir mit dem Complexity Science Hub eine Metaebene einziehen, von der wir enorm profitieren können. Wir schaffen hier die Möglichkeit, unter starker Einbindung unserer eigenen Wissenschaftler, noch fundierter unser Systemwissen zu entwickeln und können uns als europäischer Knotenpunkt, international im Netz der Complexity Science Forschungsinstitutionen, einreihen.

www.ait.ac.at