Dr. Michael Paul/Geschäftsführer paul und collegen,
Autor von ‘Raus aus dem Irrenhaus!’

TF: Welche Priorität hat die Analyse des Arbeitsmarktes?

Ich glaube, dass es dringend notwendig ist, dass wir über die Veränderung der Arbeitswelt strukturiert nachdenken und hier auch zu Lösungen kommen. Weil ich glaube, dass der Problemdruck schon sehr viel höher ist, als wir denken. Im Manager Magazin war eine Veröffentlichung über die Burnoutzahlen in deutschen DAX-Unternehmen: Wieviel Prozent der Belegschaft kommt pro Jahr in einen Burnout bzw. haben aus psychischen Gründen Fehltage? Wenn man das ins Verhältnis setzt zur Performance des Unternehmens am Aktienmarkt, findet man statistisch signifikant heraus, dass Unternehmen, mit einer hohen Anzahl an psychischen Erkrankungen unterdurchschnittlich gut an der Börse performen. D.h. es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen der Resilienz im Unternehmen und dessen Erfolg. Das ist für mich ein deutliches Zeichen, dass Unternehmen, wenn sie erfolgreich sein wollen ganz dringend daran gehen müssen an ihrer Ordnung zu arbeiten. Wir reden nicht über ein Thema, das man angehen kann, wenn man mal Zeit hat, sondern der richtige Zeitpunkt um damit anzufangen ist jetzt.

TF: Wie hat sich aus Deiner Sicht, bezugnehmend auf Deinen persönlichen beruflichen Werdegang, die Arbeitswelt verändert?

Das Arbeitsleben ist ‚vuka’ geworden, d.h. wir haben es mit Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambivalenz zu tun.

Wenn man 20 Jahre zurückblendet, waren die Märkte felsenfest verteilt, es gab wenige Player, die ihren Markt dominiert haben und langfristige Trends, d.h. es gab wenig Veränderung.

Das hat sich grundlegend geändert. Wir haben heute sehr viel mehr Multikulturalität in unseren Unternehmen und deren Umfeld. Unternehmen arbeiten internationaler, es gibt dort nicht mehr nur Menschen, die dieselbe Sozialisierung hatten, sondern Menschen mit ganz unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, hier muss man eine gemeinsame kulturelle Basis finden.
Wir sehen das Verschwinden der Reaktionszeit. Früher kam ein Brief an, der wurde gelesen, dann kam ein Eingangsstempel darauf, dann wurde er in die Ablage gelegt und man hat dann irgendwann eine Antwort geschrieben, dann wurde er korrigiert, dann wurde er ausgedruckt, in die Post gegeben – Durchlaufzeit ca. eine Woche.
Heute rufen Leute an, wenn nach 30 Sekunden E-Mails noch nicht beantwortet sind, d.h. dass sehr viel schneller agiert wird.
Und schließlich haben wir sehr viel stärker disruptive Märkte, d.h Märkte drehen sich innerhalb kürzester Zeit. Wenn man daran denkt, dass wir vor sieben Jahren alle mit einem „Nokia Knochen“ telefoniert haben, dann hatten die Ersten einen Blackberry und jetzt haben wir alle Smartphones – d.h. die jeweiligen Marktführer haben sich mehrfach verändert.

Durch all das ist das Arbeitsleben um vieles unruhiger geworden. Bedingt zum einen, dass Menschen sich im Arbeitsleben immer mehr auf neue Situationen in kürzester Zeit einstellen müssen und, dass dadurch einmal gewählte Organisationsformen in Unternehmen nicht mehr ewig Bestand haben. Unternehmen müssen sich sehr viel schneller umorganisieren können und Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen müssen sehr viel schneller neue Rollen einnehmen können.

TF: Mit welchen Veränderungen müssen wir in den nächsten Jahren umgehen?

Ich glaube, wir sind immer noch nicht am Ende dessen, wie man das Internet als Instrument von Arbeit richtig einsetzen kann, da probieren wir noch. Gerade, was Dinge anbelangt wie der Umgang Video Conferencing statt persönlicher Treffen, da ist noch keine einheitliche Linie erkennbar, wir sind noch dabei blended work auszuprobieren.
Der Fall von Frau Mayers (Marissa Mayers/CEO Yahoo) zeigt, dass es Tendenzen gibt Homeoffice wieder zurückzunehmen, wobei ich glaube, dass der Fall von Yahoo kein grundsätzliches Misstrauensvotum gegen Homeoffice sein kann, nur muss man auch bei Homeoffice noch führen können. Aber Führung funktioniert hier eben anders als früher, wo ich alle Menschen an einem Platz hatte, da werden wir sicherlich noch Veränderungen erleben.

Ich glaube auch, dass wir im internationalen Wettbewerb am Anfang stehen. Im Moment, ist die Rollenverteilung so, dass überproportional viel an Entscheidung, was den Arbeitsmarkt angeht, in Europa und Nordamerika zentriert ist. Das wird sich, glaube ich, weiter auflösen, wir werden hier einen noch stärkeren Konkurrenzkampf mit dem asiatischen Raum erleben, man wird abwarten müssen, was mit Südamerika und Afrika geschieht. All das muss zwangsläufig dazu führen, dass Arbeitseinsätze internationaler werden, dass wir die Art und Weise wie wir Incentives vergeben ändern. Bisherige Incentives wie Dienstwagen, Weiterbildung, Urlaub und Pensionsanspruch, als sicheres Recht zu empfinden, solange ich meine Leistung bringe, hat sich überholt. Hier wird es massive Veränderungen geben, weil wir mit Leuten im Wettbewerb stehen, die aus dem Antrieb heraus sich materiellen Wohlstand zu schaffen agieren, denen sind diese Benefits relativ egal.

Der dritte grosse Umbruch ist der demografische Wandel. Wir alle werden länger arbeiten, die Frage ist, wie bindet man ältere Arbeitskräfte optimal in das Arbeitsleben ein? Ich erinnere mich daran, dass mir mein Vater einmal gesagt hat, dass er mit 65 Jahren schon gemerkt hätte, dass tatsächlich die Spannkraft jeden Tag einen 15 – 16 Stunden Tag durchzustehen, irgendwann nachlässt – das ist ja auch nicht schlimm, man hat dafür ganz andere Fähigkeiten in der Erfahrung. Wie wir hier auch an eine Verteilung von Arbeit zwischen älteren und jüngeren Mitarbeitern kommen können, wird sicher auch ganz spannend.

TF: Welche Chancen ergeben sich in Deiner Berufssparte?

Da ich Berater dafür bin, Unternehmen in Zeiten von Veränderung oder auch Krisensituationen zu begleiten, gehe ich davon aus, dass unsere Arbeit eher zunehmen wird. Zum Einen werden wir Unternehmen erleben, denen es schwer fällt sich den veränderten Realitäten anzupassen und die dadurch in Krisensituationen kommen. Wir werden Unternehmen erleben, die externe Unterstützung dabei brauchen sich auf Veränderungen einzustellen.

Eine weitere Entwicklung, die wir eigentlich schon seit mehreren Jahren sehen, ist das Unternehmen mittlerweile, aufgrund des Wettbewerbsdruck. nicht mehr in der Lage sind für jede Unternehmenssituation MitarbeiterInnen vorzuhalten. Wir hatten früher in Unternehmen sehr grosse Stabsorganisationen, die dann auch in der Lage waren, in Krisensituationen, in besonderen Situationen, diesen Managementbedarf abzufedern. Hier ist vieles in den letzten Jahren im Unternehmen verschlankt worden und in den Beratungssektor abgewandert. Berater werden zukünftig auch als verlängerte Werkbank von Unternehmen stärker gefordert sein.

Welches sind die größten Herausforderungen?

Mit Vuka umzugehen, auch mit Situationen, die nicht Linear verlaufen, dabei trotzdem arbeitsfähig zu bleiben und gleichzeitig die innere Balance zu behalten. Ich glaube die steigende Anzahl an psychischen Erkrankungen in Unternehmen, die teilweise sehr heftig ist, ist auch darauf zurückzuführen, dass Unternehmen Probleme haben, mit diesen neuen Realitäten umzugehen, weil die Führungskräfte noch gar nicht darauf eingestellt sind, so etwas wie Resilienz zu entwickeln. Sowohl als Organisation als auch als Führungskraft und als einzelner Mitarbeiter, weil es eben teilweise ein komplettes Umdenken erfordert.

TF: Welchen Rat gibst Du in Deinem Buch ‚Raus aus dem Irrenhaus!’?

Ich gebe 7 Tipps, orientiert an wichtigen Managementfeldern:
1. Unternehmen brauchen noch stärker als früher eine klare Vision und eine klare Strategie. Je volatiler die Zeiten sind, desto klarer sollte der Kompass sein.

  1. Umgang mit der Multikulturalität: Ich glaube Menschen unterschiedlichster Herkunft mit unterschiedlichsten Werten und Hintergründen kann man am ehesten zusammenbringen, wenn sie starke gemeinsame Ziele haben, hinter denen sie sich wie hinter einer Fahne versammeln können.
  2. Wir brauchen eine andere Art von Führung. Eine Führung, die stärker dadurch gekennzeichnet ist, von vorne zu Führen – durch Vorleben und durch Coachen von Mitarbeitern. Weniger durch Anordnungen, auch weniger dadurch, dass man den Mitarbeitern lediglich Ziele gibt. Wir werden mehr Platz und mehr Kapazität für Führung brauchen, diese aber andersartig.
  3. Bei Organisationen müssen wir das Pendel etwas zurückschlagen lassen. Wir waren in den letzten Jahren teilweise auf dem Weg zu einer Überorganisation von Unternehmen. Speziell Dinge wie Prozessorganisation sind teilweise in die Hände von Bürokraten gefallen, die hier mit Prozesshandbüchern Schindluder getrieben haben. Das ist auch deshalb nicht mehr so zielführend, weil wir uns ständig umorganisieren müssen. Prozesse werden schon weiterhin auch eine gewisse Rolle spielen, aber ich glaube die Rolle, die jeder in der Organisation spielt, wird wichtiger. Es muss jeder seine Rolle kennen und auch eine gewisse situative Intelligenz entwickeln, wie er in unterschiedlichen Konstellationen diese Rolle auslebt und es wird weniger wichtig sein jeden Arbeitsschritt festzulegen.
  4. Eine stärkere Einbindung von IT in die Strategie- und Organisationsentwicklung.
    Das hört sich nach etwas an, was wir eigentlich immer schon gemacht haben. Ich stelle aber bei vielen Unternehmen fest, dass die IT immer noch so eine Art Fremdkörper ist. Weil man entweder auf Standardsoftwarelösungen setzt, die nicht zum Geschäftsmodell des Unternehmens passen, oder aber die Standardsoftwarelösungen – Stichwort SAP – nimmt, und versucht sie auf Biegen und Brechen dem Geschäftsmodell anzupassen, was zu einem elenden Chaos im Unternehmen führt. Die stärkere Einbindung setzt auch voraus, dass IT- Kompetenz zukünftig zu einer wesentlichen Führungskompetenz wird.
  5. HR- Arbeit muss wesentlich stärker, ähnlich wie der IT-Bereich, in die Unternehmensstrategie eingebunden werden und Personalarbeit muss wesentlich professionalisierter werden. Zum Beispiel die Frage: mit welchen Recruitingwegen waren wir besonders erfolgreich und haben besonders gute Mitarbeiter gewonnen? Unter welchen Voraussetzungen haben sich Mitarbeiterinnen besonders gut entwickelt? Das solche Dinge in Unternehmen wirklich systematisch nachvollzogen werden, passiert sehr selten. Wir sind meistens noch zu stark in Personaladministration und zu schwach in strategischer Personalentwicklung.
  6. Unternehmenskultur ist der Hebel
    Wir brauchen stärkere Identifikation mit dem eigenen Unternehmen, gerade in volatilen Phasen ist es wichtig, dass das Team zusammenhält. Wir müssen aber auch von Kulturen wegkommen, die sehr stark auf Status oder die Anzahl der geführten Mitarbeiter aufbauen hin zur einer gemeinsamen Problemlösungskultur. Es muss für jemanden auch befriedigend sein in einem Unternehmen in einer Fachkarriere zu arbeiten, wenn er sieht, dass er dadurch Problem löst und nicht mehr den Erfolg davon abhängig machen wie viele Personen geführt werden oder wieviele Fenster das Büro hat. Also Fachkarriere ohne Statusverlust.

TF: Hast du eine persönliche Vision?

Ich will mit anpacken beim Verändern. Als „Hausarzt“ für Unternehmen, an den man sich sowohl mit seinen Akutfällen wendet, zu dem man aber auch schon geht, wenn der Schnupfen nicht weg geht. Ich freue mich natürlich immer auch, wenn ich als Notarzt gerufen werde, aber dann kommt es meistens zu dramatischen Schnitten, die man dem „Patienten“ gerne erspart hätte. Es wäre schöner, wenn Unternehmen in einer dauerhaften Zusammenarbeiten mit einem Externen auch gemeinsam Krisenprävention betreiben würden.