Univ.-Prof. Mag. DDr. Stefan Thurner/

Leiter Section for Science of Complex Systems Medizinische Universität Wien

 

Was ist Complexity Science bzw. Netzwerkwissenschaft?

Prof. Stefan Thurner: Unter Complexity Science versteht man die Herangehensweise an komplexe Systeme. Komplexe Systeme bestehen aus vielen Einzelbestandteilen, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Das Netzwerk zeigt wer mit wem in welcher Beziehung steht. Die Einzelteile können in vielfacher Beziehung zueinander stehen. Aussagen über die Effizient, die Anfälligkeit auf äussere Einwirkungen, Nachhaltigkeit und Resilienz war bisher nur schwer zu treffen, weil diese Systeme unüberschaubar sind.
In den letzten zehn Jahren ist es durch die Netzwerkwissenschaft möglich geworden,  komplexe Systeme wissenschaftlich zu durchleuchten.

Die Netzwerkwissenschaft wird auch auf das Gesundheitssystem angewendet

Thurner: Das Gesundheitssystem ist ein komplexes System. Es gibt eine Vielzahl von Elementen oder Bausteinen. Die wichtigsten Grundelemente sind die Patienten, die Ärzte, die Spitäler, die Gesundheitspolitiker, die Apotheken, die Pharmafirmen und die Versicherungen. Der Arzt untersucht den Patienten, verschreibt ein Medikament, überweist ihn vielleicht zu einem anderen Arzt. Man kann über grosse Datensätze – Big Data – diese Netzwerke aufzeichen und aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Aus der Sicht von jedem Arzt den es gibt, von jedem Patienten, von jeder Krankheit, jedem Medikament. Man kann sich  die Sichtweise wie eine Landkarte vorstellen, auf der z.B. das Netzwerk der Ärzte über der Landkarte von Österreich aufgetragen ist, darüber liegt das Netzwerk der Patienten, das der Krankheiten, Krankenhäuser, Apotheken etc., die es in diesem Land gibt. Auf den ersten Blick mag das unübersichtlich erscheinen, aber mit Hilfe der Analyse der grossen Datenmenge lässt sich auch eine grosse Menge an Information ableiten.

Wie kann diese Information dann angewendet werden?

Thurner: Man kann sich das österreichische Gesundheitssystem in Bezug auf seine Effizienz ansehen und z.B. Bundesländervergleiche ziehen oder bewerten, ob ein Krankenhaus bzgl. einer bestimmten Operation erfolgreicher als ein anderes ist. Oder z.B. die Unterschiede in den Diabetesraten zwischen Kärnten und Niederösterreich aufzeigen und analysieren. Das führt zu einem besseren Verständnis des Gesundheitssystems, gibt Auskunft über die Effizienz, die Finanzierbarkeit und schafft grössere Transparenz.

Können die Daten auch in der Diagnose verwendet werden?

Thurner: Natürlich, das ist das wichtigste Anwendungsgebiet. Mit den gleichen Daten kann man auch Medizin machen. Man kann neue Fragen stellen. Wir wissen z.B. von jeder Person anonymisiert in Österreich, was für Krankheiten diagnostiziert wurden. Meistens wird nicht nur eine Krankheit festgestellt, sondern zwei Krankheiten oder mehrere. Aus dieser Information kann man Krankheitsnetzwerke extrahieren. Das sind Netzwerke bei denen die Knoten die Krankheiten darstellen und die Verbindungsstriche die Anzahl der Patienten sind, die gleichzeitig diese Krankheit haben, sowohl örtlich als auch zeitlich. Mit Complexity Science ist es möglich ein Komorbiditätsnetzwerk für mehrere tausend Krankheiten zu erstellen. Welche Krankheiten man gleichzeitig hat, ändert sich dynamisch über das Lebenszeitalter. Kinder haben ganz andere Krankheiten zur gleichen Zeit als Säuglinge, Dreissigjährige oder Siebzigjährige.

Haben Sie ein Beispiel?

Thurner: Die Analyse dieses Netzwerkes kann z.B. folgende Frage beantworten: wenn ich 45 Jahre alt bin, männlich, Diabetiker und Probleme mit der Netzhaut habe – mit welcher Wahrscheinlichkeit habe ich in 5 Jahren zusätzlich noch verschiedene andere Probleme? Diese Analyse kann in der Präventivmedizin verwendet werden und bietet eine komplett neuartige Zugangsweise zur Prävention. Wenn mit den vorher genannten Parametern anhand von Millionen Daten die Wahrscheinlichkeit von z.B. 20% aufscheint, dass dieser Patient in den nächsten 5 Jahren einen Gehirntumor hat, dann kann der Arzt ganz andere Fragen stellen. Wie z.B. habe sie häufig Kopfschmerzen, Schwindel, etc.. Die Datenauswertung hilft in der Diagnose und kann gezielt möglichen Krankheiten entgegensteuern.

Die Auswertung der Daten erweitert also den Erfahrungsbereich des Arztes?

Thurner: Genau. Egal wie erfahren ein Arzt ist, seine Erfahrung baut immer auf einer bestimmte Anzahl an untersuchten Patienten auf. Die Datenbank beinhaltet circa 10 Millionen Patienten und deren komplette Krankengeschichte und kann daher viel präszisere Voraussagen machen.

Wie kann sich unser Gesundheitssystem mittelfristig verändern, wenn wir mit diesen Daten umgehen?

Thurner: Wenn diese Daten für die Wissenschaft zugänglich wären – diese Daten sind zurzeit nicht öffentlich zugänglich – dann können wir das Gesundheitssystem nachhaltig verbessern und verändern. Patient, Arzt und diese Daten könnten ein Dreieck bilden in dem kommuniziert wird und tatsächlich die Gesundheit der Menschen mit Hilfe von präventiven Massnahmen erheblich verbessert wird.  Auf diese Art und Weise kann man außerdem massiv Kosten einzusparen. Allerdings sind diese Daten derzeit nicht frei verfügbar, das ist ein juristisches Problem. Es Bedarf der Klärung der Frage, wie wir mit dieser Art der Daten umgehen, wer Zugriff auf welchen Teil dieser Daten hat, wie diese Daten anonymisiert werden müssen, sodass die Bürgerrechte gewahrt bleiben. Diese Fragen müssen wir als Gesellschaft klären, das kann die Wissenschaft nicht entscheiden.

Gibt es international ein Beispiel wie diese Umsetzung möglich ist?

Thurner: Nein, gibt es meines Wissens nicht. Es gibt einige Länder, die eine ähnlich hohe Datenqualtität haben, wie wir in Österreich. Viele Länder haben eine wesentlich schlechtere Datenqualität wie z.B. die USA hat vergleichbare Daten nur für alte Leute. In Österreich hat man vom Baby bis zum Greis die Daten verfügbar. In unserer Datenqualität sowie in der Verbindung der Analyse über Netzwerke zur Verbessung der Diagnostik und zur Prävention sind wir weltführend.

Welche neuen Berufsgruppen können sich entwickeln?

Thurner: Angenommen diese Daten wären verfügbar, dann wird sich meiner Meinung nach Medizin stark ändern, sie wird datengetriebener. Das wird für das Berufsbild von Ärzten entscheidend sein – Medizin wird zusätzlich zu einer Data Science, es wird Berufsbilder geben, die aus Daten verwertbares Wissen extrahieren. Gute Mediziner waren immer und sind gute Beobachter. Diese Daten können den Erfahrungsschatz, den ein guter Arzt hat, nicht nur verzehnfachen sondern vermillionenfachen, das ist, glaube ich, die grosse Innovation.

Was ist Ihre Vision?

Thurner: Ich möchte als ersten Schritt zwischen 2015 und 2020 alle medizinischen Daten an einem Ort zusammenbringen. Allerdings nicht im Wildwuchs, sondern in Kombination mit ethischen, legistischen und juristischen Entwicklungen unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte und des Datenschutz. Der zweite Schritt ist die Abklärung wie nachhaltig, kostenintensiv, transparent und vor allem wie finanzierbar das derzeitige System für die nächste Generation ist. Und der dritte Schritt ist personalisierte Medizin zu machen im Dreigestirn Patienten, Ärzte und Big Data.

http://www.complex-systems.meduniwien.ac.at