Helge Fahrnberger/ CEO Toursprung

TF: Was ist die grösste Veränderung, die die Arbeitswelt in den letzten Jahren geprägt hat?

Ich glaube die Arbeitswelt hat sich massiv dahingehend verändert, dass sich das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern flexibilisiert hat und die Trennung verschwindet. Es gibt zunehmend junge Leute, vor allem im Kreativsektor, die in keine fixe Anstellung wollen. Das ist nicht Selbständigkeit, weil sie keine Jobs finden, das ist eine ganz bewusste Entscheidung.
Es gibt einen fließenden Übergang von Angestellter über Freelancer zu EPU zu Startups, dieser verändert, glaube ich, die Arbeitswelt. Viele Unternehmen konstituieren sich nicht mehr klassisch mit Büro und Sekretariat, Hierarchie und Anwesenheit, sondern schließen sich zu virtuellen Organisationen zusammen und organisieren sich über alle möglichen Online-Plattformen

Es gibt sehr viele Innovationen, die aus dem Bereich entstehen. Ich habe auch das Gefühl, dass viele Leute, vor allem im Bereich Informatik und Kreativwirtschaft, diese Entwicklung mittlerweile als normal ansehen und sagen „ Das ist jetzt so. Mich interessiert gar nichts anderes. Ich will nicht zu Procter&Gamble – wie früher in den 90er alle WU-Absolventen“.

TF: Kannst Du einen Punkt bezeichnen, anhand dessen diese Veränderung stattgefunden hat?

Mein Schlüsselerlebnis war „View source“… Ich habe im Herbst 1994 in einem Uni-PC-Raum in den Quellcode einer Webpage geschaut und gesehen, dass das nicht „rocket science“ ist sondern irgendwie ganz simpel. Und bin dann dem Internet verfallen und damit aus dem System ein bisschen herausgekippt. Damals war das System: Universitätsausbildung und damit in der Folge „klassische Karriere“. Ich hatte im Internetbereich keine Ausbildungen, denn die gab es damals noch gar nicht.

TF: Was sind Deiner Meinung nach die größten Veränderungen im Arbeitsleben, die in den nächsten Jahren auf uns zukommen können?

Ich glaube, dass sich die Produktionsbedingungen für viele Branchen durchs Internet verändern und damit auch Arbeitsbedingungen. Es findet eine Digitalisierung von Branchen statt. Das haben manche Branchen sehr früh erlebt, wie die Reisebranche oder die Musikbranche, die Zeitungsbranche, die Buchbranche erlebt es jetzt gerade. Die Digitalisierung führt auch dazu, dass in Nischen, aber zunehmend auch in der Breite kleine, schnelle und innovative Unternehmen, zum Teil Einzelpersonen, große Marktanteile gewinnen. Damit sind auch Schlachtschiffe mit 1.000en und 10.000en Mitarbeiter in all diesen Branchen, die von der Digitalisierung betroffen sind, zunehmend einer kleinen schnellen Konkurrenz ausgesetzt.

Es gibt noch viele Branchen, die davon noch nicht betroffen sind. Aber mit ein bisschen Fantasie sind die meisten Branchen digitalisierbar.

TF: Wie würde diese Entwicklung weitergehen in Zukunft weitergehen? Es gibt viele kleine innovative Unternehmen, die Marktanteile erreichen oder erringen wollen und diese werden dann gekauft oder löst sich dieser Rhythmus auf?

Ich denke eher daran, dass klassische Produktionsbedingungen umgangen werden. Ein Beispiel aus ist Amanda Palmer, die Major-Label-Plattenverträge gekündigt und ihr nächstes Album selbst gemacht hat. Das wäre früher nicht möglich gewesen, die Produktionsbedingungen hätten es nicht hergegeben. Palmer hat ihr Projekt auf eine Crowdfunding-Plattform gestellt mit dem Ziel für ein Buch und ein Album 100.000 USD einzunehmen. Sie hat weit über 1.Mio.USD eingenommen, ist erfolgreicher denn je und kommt ohne ein Schlachtschiff im Hintergrund aus – auch eine Veränderung von Arbeitsbedingung.

Das kann man sich am Büchermarkt und im Softwaremarkt vorstellen. Natürlich kommt es vor, dass Schlachtschiffe solche kleinen Enterprises kaufen. Ich glaube aber, dass sich für viele Uni-Abgänger oder Berufseinsteiger die Wahlmöglichkeiten verändert haben. Die meisten haben früher gar nicht darüber nachgedacht, sich selbständig zu machen. Ein Unternehmen hat man gegründet, wenn man zehn Jahre in einer Branche Erfahrung gesammelt hatte – wenn überhaupt. Ich glaube, dass ein EPU zu sein in manchen Branchen zur Standardform wird und zu allen möglichen Arten des Zusammenschlusses, zu virtuellen Unternehmen oder Freelancer-Teams oder auch Startup-Unternehmensgründungen führt, die genauso zum Standard gehören werden wie früher oder später auch mal ein paar Jahre in einer großen Firma zu arbeiten.

TF: Was denkst Du, was hier die größten Chancen in dieser veränderten Arbeitswelt sein werden? Was ist der größte Benefit für uns persönlich, aber auch für unser Wirtschaftssystem?

Ich glaube, wir erleben eine gigantische Effizienz- und damit Produktivitätssteigerung. Wenn z.B. der Taxifunk, die Vermittlung von Taxis digitalisiert wird: Man ruft nicht bei einem Callcenter an, in dem 100e Leute sitzen, sondern man wählt dieses Taxi über eine Smartphone-App. Das ist eine Digitalisierung und Effizienzsteigerung, die letzten Endes den Output der Volkswirtschaft erhöht. Vorausgesetzt, dass die Arbeitsplätze, die damit verloren gehen, anderswo neu entstehen. Was eigentlich immer passiert ist. Und diese Produktivitätssteigerung, vorausgesetzt, dass die Politik nicht versagt, führt zu Wohlstand und auch zu mehr Freizeit.

TF: Steht das Thema ‚mehr Freizeit’ nicht im direkten Gegensatz zu dem, wie Startups und EPU im Moment arbeiten?

Die Abgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit verschwindet. Man arbeitet eigentlich immer, auch im Urlaub, wenn man den Laptop aufklappt, wenn man Lust hat. Das schafft große Freiheiten und auch große Herausforderungen. Und natürlich gibt es viele Leute die entweder nicht richtig damit umgehen können, oder so ehrgeizig sind, dass sie diese Freiheit nutzen um schneller und erfolgreicher zu sein als andere.

Aber ich glaube, als Gesellschaft im gesamten, können wir es uns durch die Produktivitätssteigerung vielleicht irgendwann leisten die Normarbeitszeit tatsächlichvielleicht auf 4-Tage pro Woche zu reduzieren. Und man hat zumindest die Möglichkeit es anders zu machen. Zum Beispiel: Ich war letzten Sommer zehn Wochen in Mosambik und habe dort über das Internet gearbeitet, meine Handynummer wurde umgeleitet. Ich habe jeden Tag drei, vier Stunden im Schnitt gearbeitet und den Rest der Zeit genutzt um Portugiesisch zu lernen und ein neues Land kennenzulernen. Das wäre früher undenkbar gewesen.

TF: Ist durch diese Freiheit oder diese ‚mehr’ Zeit bzw. durch dieses Umdenken auch der Moment gekommen, wo man sich mit der eigenen Sinnhaftigkeit stärker auseinandersetzt und zusätzlich einfach etwas tun will, das mehr Leuten hilft als der eigenen Geldbörse oder eigenen Karriere – Stichwort Dein Engagement mit dem Laafi – Kalender?

Ich glaube, wir würden alle ganz gern das machen, was wir eigentlich machen wollen, nur die meisten von uns tun es nicht, weil sie Geld verdienen müssen.
Und durch diese neuen Arbeitswelt und vielleicht durch einer neue Gesellschaftsordnung, können wir es uns jetzt leisten darüber zu reflektieren und es auch umzusetzen. Stichwort: z.B. die Grundsicherung, bietet Möglichkeiten zunehmend einfach das zu tun, was man tun will, ohne Rücksicht darauf, ob dafür monatlich Geld überwiesen wird oder nicht.

Was meines Erachtens dazu führt, dass man früher oder später davon leben kann und oft sehr gut. Wenn man das liebt was man tut, dann wird man vermutlich auch sehr gut darin werden. Dann finden sich auch Geldquellen für das Unterfangen, selbst wenn es exotisch ist. Und ich glaube, dass zunehmend mehr Leute das tun, was sie tun wollen und ob das jetzt bezahlt ist oder nicht. Sie brauchen diese Unterscheidung in pro-bono, Freiwilligenarbeit, Unternehmensgründung oder Anstellung nicht, all diese Dinge gehen ja ineinander über. Dass man nicht immer für alles was man macht Geld bekommt. Manchmal rentiert es sich aber über einen Umweg.

Ich glaube, es ist mehr eine neue Gesellschaftsordnung als eine neue Arbeitswelt.

TF: Was ist die größte Herausforderung in der neuen Gesellschaftsordnung?

Die größte Herausforderung ist, nicht unterzugehen, weil mit allen diesen Freiheiten und Möglichkeiten und dieser Selbstbestimmung Leitlinien wegfallen, nicht Einengung, sondern auch ein Rahmen wegfällt. Nicht jeder, mich eingeschlossen, kann damit recht gut umgehen.

Also, die Klassiker: Man steht in einem großen Supermarkt und es gibt 80 Joghurtsorten. Das ist vermeintlich ein Vorteil, aber tatsächlich auch eine Last. Und so ist es im ganzen Leben, wenn alle Möglichkeiten offen stehen, dann führt es vielleicht dazu, dass man sich wirklich schwer tut eine Entscheidung zu treffen, sich auf etwas zu konzentrieren und die anderen Dinge zu ignorieren.

Das ist eine gigantische Anforderung an alle, weil wir damit auch relativ alleine gelassen werden. Früher, eine Generationen zurück, war das Leben mit der Geburt vorgegeben. Was wirst du? Bauer -> wie der Vater. Jetzt ist gar nichts mehr vorgegeben. Das macht die Entscheidung manchmal relativ schwer.

TF: Hast du eine Vision?

Es gibt Apologeten der Veränderung und es gibt Apokalyptiker der Veränderung und ich halte beides für Mumpitz. Es ist eine große Veränderung, die wir erleben und die hat negative und positive Seiten. Und ich sehe jetzt keine Utopie, auf die wir zusteuern, sondern ich glaube lediglich, dass wir irgendwann von unseren Enkeln gefragt werden „Ja, wie war das damals eigentlich, du warst dabei?“ Aber es ist eine sehr komplexe Zeit und ich habe keine genaue Ahnung, wo sie hinführt.

TF: Hast du noch ein Statement?

Ich mache mir darüber, wie die Digitalisierung der Gesellschaft verändert, Gedanken. Das hat natürlich mit der Arbeitswelt zu tun, denn Organisationsformen sind stark der Veränderung unterworfen.

Eine Message ist mir wichtig: Wenn sich drei Leute treffen um etwas zu organisieren, dann machen sie das einfach, z.B.  ein Fest. Wenn sich zehn Leute treffen, dann wird es kompliziert und man wird arbeitsteilig. Wenn sich die zu zweit oder zu dritt nochmal treffen, dann gibt es vom vorigen Mal schon Rollen und es bilden sich Hierarchien. Aus diesen Prozessen entstehen Staaten und Städte und Unternehmen und andere hierarchische Organisationsformen.

Ich glaube, durch die Digitalisierung der Telekommunikation haben wir erstmals die Möglichkeit, den Reibungsverlust, der uns zur Hierarchie zwingt, hinauszuzögern. Das heißt, man kann sich in größeren Gruppen weiterhin als Netzwerk organisieren ohne Hierarchien bilden zu müssen, siehe #unibrennt, also die Studentenproteste vor drei Jahren, die sich auf die Art und Weise komplett unhierarchisch organisiert haben und ziemlich Großes auf die Beine gestellt haben.

Die Netzwerkorganisationsform, die nicht-hierarchische Organisationsform, hat wiederum sehr viele Vorteile. Sie ist durchlässiger und ermöglicht Innovation, denn Hierarchie bindet und verhindert Innovation oft, vor allem von unten. Diese Änderung verändert natürlich auch die Arbeitswelt. Wenn durch die Möglichkeit einer Netzwerkorganisation die Nachteile der hierarchischen Organisationsform ausgehebelt werden, können sich Mischformen aus beiden bilden. Das ist die direkte Folge der Digitalisierung der Kommunikation.

http://de.slideshare.net/muesli/about-lions-and-ants-presentation